beobachtungen im zug

moutier. ein kindergarten in einer villa mit gleisausblick. morgens: spielende kindersilhouetten; ostsonne.
nachmittags gegenlicht. die kinder klarer sichtbar; fröhlich auf zwanzig meter entfernung.

als ich die frau gegenüber beschrieb, spielte ich mit dem wort wasserleiche: die augenfarbe im ton der algen, die eine wasserleiche bevölkern. ich hörte sie husten, nachdem ich den vergleich verworfen hatte. das morbide wäre vortrefflich, denke ich jetzt.

der geschäftsreisende: ibm-laptop, iphone, er sagt: ich habe ihnen aufs band gesprochen.
– was für eine herrlich altmodische redewendung: jemandem aufs band sprechen!

»wenn ich mühe habe, klare worte zu finden, dann weiß ich, dass auch meine gedanken zu diesem thema noch nicht klar sind.« simonetta sommaruga anlässlich der eröffnung der buchbasel.

freitagmorgen. il fait beau, sagt mein kollege. das ist nicht gut. es ist die zeit schulischer pflichtbesuche.

ein mädchen fragt ein anderes auf der toilette:
– maria, findest du die autorenlesung auch langweilig?
– nee, find ich die gut.

delémont. der mann schräg gegenüber, ein weißhaariger in dickem grünen wollpullover, grüner cordhose und unverschnürten lederschuhen isst zehn minuten lang einen apfel: auf dem rechten bein liegt ein taschentuch. er beißt vom apfel ab, kaut, sondiert sorgsam die schale. greift mit den fingern in den mund, entnimmt die schale und legt sie auf das taschentuch. der berg wächst. als spitze platziert er den mager geknabberten apfelstrunk, dann legt er das taschentuch zusammen und versenkt es im mülleimer.

Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien