notizen, hrach

schneeregen, jerewan. ich hänge einem anforderungskatalog von webseiten nach und einem bekannten, der mir schreibt, es ginge um leben oder tod, und damit einen potentiellen job meint. stress, die tasse voll thymiantee klirrt auf ihren weißen untersatz, die blättchen schwimmen darin, ein glas voller zuckertüten steht ungerührt, ich versuche, meinem bekannten verständlich zu machen, dass ich als lebensretter untauglich bin, noch ein schluck – ich weiß nicht, warum ich aufblicke. vielleicht, weil die wörter und seelen in der luft schwirren, wie gaia sagt, und sie sich treffen wollen: ein winken, aufspringen: die umarmung – willkommen!

wir laufen durch den schneeregen, vorbei an einer edellouge, einem mäßig miesen jazzcafé und landen im jazzve, der langweiligsten und bekanntesten lokalen kaffeekette. der kellner kommt dreimal, aber tschischtn assaz (=ehrlich gesagt) wissen wir nicht, was wir wollen.

ich reiße gedanken an, die ich nicht verlieren will:

~ die grenzen als äußere, künstliche konstrukte (die sich verdoppeln: einmal, indem sie da sind, einmal, indem wir sie weitertragen); der umgang mit den grenzen wie ein fußballspiel, in dem es nur um den sieg geht, nicht um die freude am spiel; er sagt es auf französisch. ein stockendes französisch

die sprache als flussbett, ausgetrocknet. das mühsame sich einen weg bahnende wasser, nach jahren  der dürre: seit 10 jahren kein französisch mehr.
wir rudern uns in die sprache, winken und hebeln. die arme kreisen, bevor das wort hervorkommt, die bewegung gebärt es.

die sprache soll nicht zwischen uns stehen, wir reden mit den armen, und dzerkov (=mit den händen) klingt für einen moment wie der name einer eigenen sprache.

der mensch, der nicht gut handelt, weil er gelernt hat, dass dieses handeln, das er vollführt, gut ist – sondern der es von sich, aus sich selbst heraus tut. geben, um zu geben; weil es ein system gibt, das erfordert, das man gibt, als das künstliche.

les droits als ziel, la justice als das allgegenwärtige.

in den letzten 10 jahren ist mein gesicht, mein lächeln mir näher gekommen. ich bin ruhig geworden. ich stand immer im konflikt mit dem, was mich umgab. heute bin ich dem fern. ich habe mich von dem system entfernt. ich spreche zu den bäumen, den vögeln, dem lebendigen. da ist eine verbindung. mit den menschen, auch jenen, mit denen ich vielleicht zu tun hatte.

die nicht verschwendete zeit: zeit verschwenden wir nur, wenn wir krampfhaft nach lösungen suchen. solange drehen wir uns im kreis oder wir laufen diesen kreis, aber vorwärts kommen wir nicht. (ich erzähle von dem leben, das es wert ist, als solches benannt zu werden, wenn ich in armenien bin, und dem blassen nachklang dessen, solange ich in der schweiz bin [später die künstler als rettung des sich gleichschaltenen abendlandes] – das muss ich ändern. nein, warum? daraufhin die zeitver[sch]wendungstheorie.)

es ist doch absurd, dass wir beziehungen pflegen und aufgeben, sauber aneinander gereiht wie in schuhkartons gesteckt; mission accomplished.

der esel

ich bin schuld dass unser esel tot auf der straße liegt
zwischen unseren häusern und denen der nachbarn
verläuft eine gasse
durch die niemand geht weil die scheißkerle schießen

die nachbarn und wir werfen uns zu was wir brauchen brot
zigaretten ich wusste dass wir noch zwei säcke mehl haben
aber die kann man nicht werfen

deshalb habe ich den esel geholt dem wir
sie auf den rücken banden

dann haben wir ihn rübergejagt mit
großem geschrei plötzlich brach es
aus uns heraus wir
trieben den esel brüllten

und die schützen begriffen
sie haben geschossen
geschossen und nicht mehr aufgehört das blut
des esels hat sich mit dem mehl vermischt
auf der straße geklebt

und unsere nachbarn haben
versucht das kadaver zu sich zu ziehen
sie haben gezogen wir geschoben

aber das mehl war längst
längst verloren

und das ist meine schuld
meine scheiß=
schuld

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nah am meer

während der tag jene zeit erreicht, in der gewöhnlich die sonne untergeht, heute aber das grau unverändert bleibt, durchblättere ich facebookchroniken, mit vorliebe von menschen, die ich nicht kenne und denen ich deshalb ein leben erfinden kann, anhand der ihrer worte, der bilder und videos, die sie dort teilen.

weil ich mir ein leben aussuchen kann, wähle ich das eines mädchens aus burma. ich schaue in ihre musiksammlung: egal, was ich dort finde, ich höre die stücke und schreibe einen ausschnitt leben dazu – so ist das mädchen gerade umgezogen aus tbilissi, georgien, nach kambodscha, und was ich dazu erfinde: es arbeitet dort als köchin ganz nah am meer.

hortensien

das mädchen, das nie blumen hatte und nie blumen kannte, nicht einmal den namen nach, als es einundzwanzig war und sehr allein, bemerkte es, dass seine heimat in hortensien lag. dort, wo das mädchen herkam, wuchsen blaue und rote in schweren tontöpfen und abends karrte der großvater sie vom gehsteig in den innenhof.
als das mädchen auszog in ein land, wo blumensträusze weniger kosteten als ein stück butter, fand es wieder hortensien. dort kaufte es nur die blüten, stelle sie in wasser und niemand schimpfte, dass sie ihr essensgeld für schnittblumen ausgab. das mädchen verliesz auch dieses land, zog wiederum in ein nächstes und verlor dabei die hortensien aus den augen. kürzlich sah es sie in einem gemälde. das mädchen legte sich vor dem bild auf den boden und drängte mit dem rücken gegen die wand, an der das hortensienbild hing.

stille

die sonne legte glasmalereien
auf deine gesicht:

skizzen des neun=
zehnten jahrhunderts
zerschlug ich irgendwann
zu viel du 

beobachtungen im zug

moutier. ein kindergarten in einer villa mit gleisausblick. morgens: spielende kindersilhouetten; ostsonne.
nachmittags gegenlicht. die kinder klarer sichtbar; fröhlich auf zwanzig meter entfernung.

als ich die frau gegenüber beschrieb, spielte ich mit dem wort wasserleiche: die augenfarbe im ton der algen, die eine wasserleiche bevölkern. ich hörte sie husten, nachdem ich den vergleich verworfen hatte. das morbide wäre vortrefflich, denke ich jetzt.

der geschäftsreisende: ibm-laptop, iphone, er sagt: ich habe ihnen aufs band gesprochen.
– was für eine herrlich altmodische redewendung: jemandem aufs band sprechen!

»wenn ich mühe habe, klare worte zu finden, dann weiß ich, dass auch meine gedanken zu diesem thema noch nicht klar sind.« simonetta sommaruga anlässlich der eröffnung der buchbasel.

freitagmorgen. il fait beau, sagt mein kollege. das ist nicht gut. es ist die zeit schulischer pflichtbesuche.

ein mädchen fragt ein anderes auf der toilette:
– maria, findest du die autorenlesung auch langweilig?
– nee, find ich die gut.

delémont. der mann schräg gegenüber, ein weißhaariger in dickem grünen wollpullover, grüner cordhose und unverschnürten lederschuhen isst zehn minuten lang einen apfel: auf dem rechten bein liegt ein taschentuch. er beißt vom apfel ab, kaut, sondiert sorgsam die schale. greift mit den fingern in den mund, entnimmt die schale und legt sie auf das taschentuch. der berg wächst. als spitze platziert er den mager geknabberten apfelstrunk, dann legt er das taschentuch zusammen und versenkt es im mülleimer.

auf dem weg

eine dünne haut haben.
man sagt, er habe eine dünne haut:

da sitzt ein alter mann im bus
und schaut nach draußen sitzt

ganz vorn hinterm fahrer die
haut pergament das
nachlässig getrocknet wurde
und falten schlug wie frischhaltefolie

altersfleckig liegt sie
auf den knochen und
durchschimmernd die
abwesenheit des fleisches

der geist flog (wie ein vögelchen)
hinaus so bleibt

ein leerer alter mit glasigen augen
auf dem weg

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