Ein Loch im Rost. Eine Reise in die armenische Dichtung

Der Umschlag der Anthologie »Zeitgenössischen Armenischen Lyrik« zeigt ein rostiges Tor, darauf ein in Stein geschlagener Engel. Auf der Rückseite bildet der Umriss des Engels ein Loch im Metall: Man blickt durch einen bewölkten Himmel auf den Ararat.

Durch Loch im Zaun steigt der Leser in das kleine fremde Land im Südkaukasus. Es fühlt sich an wie Abenteuer. Nichts ist geplant, aber alle sind euphorisch: Das hier ist Pionierarbeit. Die bisherigen Übertragungen armenischer Literatur ins Deutsche lassen sich an den Fingern und Zehen eines einzelnen Menschen abzählen, es sind Gedichte, Romane, Erzählungen und Epen. Zählt man die Namen der Übersetzer, genügt schon eine Hand.

Für die »Zeitgenössische Armenische Lyrik« ist es immerhin ein Dutzend Übersetzer, die den Leser nach Armenien führen. Manche Übersetzungen sind glasklar und gerade. Andere, von armenisch-deutschen Übersetzer-Duos geschaffen, delirieren sich in sinnlosem Reim und Rhythmus oder versinken in Stilmittelfluten à la »Ruhende Raupe / Geistesblitz des Genies«.

Die Essenz des verworren-schwammigen Vorwortes: Umbrüche. Wenn man über die armenische Literatur seit den 1960er Jahren spricht, so lässt sie sich auf den gemeinsamen Nenner des »Umbruchs« bringen. Es gibt Transformationen, Übergänge, Brüche. Die konkreten historischen Ereignisse spiegeln sich in einigen Texten der Anthologie: Der Völkermord an den Armeniern im osmanischen Reich 1915. Die langen Jahre der Sowjetherrschaft. Im Dezember 1988 das Erdbeben von Spitak. Anfang der 90er Jahre der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Enklave Berg Karabach. Die »dunklen Jahre«. Noch heute leben 35,8% der armenischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Violett Grigoryan zeigt den Alltag dieser Menschen in ihrem Gedicht »Über Liebe und Krieg«. Fast entsteht der Eindruck, man lese eine Reportage:

»Für ein bisschen, ein kleines bisschen Vergnügen
gebe ich mein ganzes Geld.
Meine Hübschen, zarte Geldscheinchen.
Stapel von Zehnern,
entschuldigt mich Närrin,
dieses Jahr habe ich wieder keine Schuhe gekauft,
für ein bisschen, ein kleines bisschen Vergnügen
laufe ich noch ein paar Jahre barfuß.
Du da, Gespenst, Hohepriester des Kiosks,
du gaunerischer Schatten im Kerzenschein,
Magier der Bude,
gib mir Kaugummi, Wein und Zigaretten.«

Auch das Gedicht »Falle« von Hovhannes Grigoryan trägt derart reportagenhaften Züge. Es erzählt von einer vielköpfigen Familie, die in einem Eisenbahnwaggon lebt. Ein Reporter besucht die Familie und das einzige, was er zu erzählen findet, ist eine Fliege in der Luft und wie synchron sich da die Hälse recken. Schließlich steckt der Reporter das letzte Essen ein und verschwindet »als der Waggon an Fahrt zunehmend / fortfahren würde da zu bleiben / wo er stand«. Grigoryan erzählt ruhig und schörkellos in der Übersetzung von Raffi Kantian. Seine Sprache hat die Kargheit des Waggons, vom dem sie spricht. An anderer Stelle erzählen die armenischen Gegenwartsgedichte von den universalen menschlichen Themen: Von Liebe, Konflikten und Tod.

»Noch ein Lied«, ebenfalls von Grigoryan, ist ein wunderbares Anti-Kriegslied, voller Wiederholungen und leichter Varianzen. So wie sich die Tode wiederholen und einander gleichen, von ihren kleinen eigenen Zügen abgesehen.

»NOCH EIN LIED

Und jene, die gestern umgebracht wurden,
und jene, die morgen umgebracht werden,
und jene, die brüllten
›Hoch das Vaterland‹,
und jene, die es nicht mehr schafften:
Sie alle hatten
blaue oder schwarze Augen,
hatten Vornamen und Namen,
Anlässe für Freude und Trauer.
Auch wenn alle heimatlichen Instrumente erklingen,
auch wenn alle Mütter wehklagen in verschiedenen Sprachen,
die Sprache der Trauer bleibt gleich,
gleich bleibt die Farbe der Tränen
und verständlich für jedermann.
Ich jedoch,
dem man viele Sünden nachsagt,
feure vielleicht morgen,
vielleicht schon heute,
in olivgrüner Uniform
die letzte Kugel ab im Namen der Zivilisation
und falle brüllend
›Hoch das Vaterland‹,
oder vielleicht schaffe ich es nicht mehr zu brüllen.
Und meine Mutter beweint mich in Schiraker Mundart
und verflucht in derselben Mundart
alle Kriege dieser Welt.«

Andere Gedichte begeben sich ins Surreale. Varlen Aleksanyan lässt ein Flügelwesen sprechen. Es fragt, was tue man mit Flügeln in einer Welt, die nicht erlaube, sie zu strecken, damit zu umarmen, zu beten, zu tanzen, gar zu fliegen? Nicht einmal in die Seiten dürfe man sie stemmen. Allein wenn sie hängen, ertöne Applaus.

Eine Kollektion verschiedener Apokalypsen wohnt, ziemlich erstaunlich, vor allem bei den jüngeren Autoren. Man macht sich bereit für den Untergang, winters oder kurz danach. Ins Marine Petrosyans Gedicht »alles ist zuende« geht die Welt in Schnee unter. Zuerst vergesse man den Alltag, dann erkenne man die Todesgefahr und schließlich frage man sich: »wozu denn ein haus / wenn / der schnee sogar die vögel bedeckt / die im himmel sind«.

Was bei Andranik Karapetyan folgt, ist nicht weniger bedrohlich: Der Winter löst sich auf, Taube für Taube verlässt das Weiß seine Flächen und die Vögel landen auf den Schultern des Erzählers – bis schließlich »draußen ein Frohlocken der Farben war, / Und der Schwere des Weißes / Meine Schultern nicht mehr aushielten, / Fühlte ich plötzlich eine ungeheure Erleichterung. // Zahllose Tauben / Hoben mich mit in den Himmel …«

Bei dieser Anthologie mag man berührt sein von den guten Gedichten oder enttäuscht von jenen, die vielleicht auch nur in deutscher Übersetzung schrecklich klingen. Manche, über die die Reimwut hinweggefegt ist wie ein Wirbelsturm, der alles Feine und Bestaunenswerte zerstört hat.

Das Büchlein ist ein Schnellschuss, dem mehr Sorgfalt gut getan hätte. Aber es ist zumindest ein Einstieg. An den scharfen Kanten des Zauns, durch den die Übersetzer nach Armenien gestiegen sind, um die armenische Dichtung ins Deutsche zu holen, bleibt einiges hängen. Aber es entsteht auch der Wunsch nach mehr Gedichten von Hovhannes und Violett Grigoryan, Marine Petrosyan und Andranik Karapetyan – und gern in der Übersetzung von Raffi Kantian.

Der Band »Zeitgenössische Armenische Lyrik« ist ein Produkt sachsen-anhaltisch-armenischer Kooperation: Der armenische Schriftstellerverband besorgte die Textauswahl, für die Übersetzungen arbeiteten deutsche und armenische Übersetzer und Lyriker gemeinsam.

Es ist zu hoffen, dass aus dieser Kooperation noch mehr Projekte entstehen werden – ihrerseits sorgfältiger gearbeitet, lektoriert und gestaltet. Aber vor allem eines muss sich ändern: Die Bücher müssen für das deutschsprachige Publikum verfügbar werden. Man muss erfahren, dass es dieses Buch gibt – und es mühelos bestellen können. Die Zielgruppe der Publikation sollte nur einen Mausklick, einen Anruf oder einen Gang zur Buchhandlung davon entfernt sein. Wenn Vertriebswege im deutschsprachigen Raum entstehen, ist der erste Schritt gemacht, damit uns die armenische Dichtung zugänglicher wird.

Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien