Laut offiziellen Angaben leben in Armenien rund 3,2 Millionen Menschen, das Auswärtige Amt schätzt die reale Einwohnerzahl geringer. Sagen wir, 3,2 Millionen waren es einst.
Durchschnittlich verdienen die Menschen, die in der Republik Armenien geblieben sind, rund 230 Euro pro Monat*. Eine Lehrerin in Gyumri erzählte mir 2009, sie verdiene 100 Euro. Davon ernährt sie ihre Mutter, ihr jüngeres Kind, das in Gyumri zur Schule geht, und unterstützt die ältere Tochter, die in Yerevan ihren Journalismus-Master macht.
In Yerevan selbst wechseln die Gegensätze wie Verkehrslichter. In manchen Straßen stehen Autos nebeneinander, von denen jedes einzelne das Vielfache eines gewöhnlichen Menschenlebens wert ist. Keine zehn Minuten entfernt stehen Baracken und Hütten, die man nur als Behausungen erkennt, weil vor ihren Türen Wäscheleinen hängen. Yerevan versucht sich als moderne Stadt zu zeigen, voller Cafés, Pubs und Restaurants. Menschen prosten zuversichtlich dem Abend entgegen. Wenn man abends durch die Innenstadt geht, scheint es, als gebe es eine Mittelschicht, zumindest in der Hauptstadt.
Ein paar junge Leute kellnern und verdienen am Tag so viel, wie ein deutscher Kellner in der Stunde. Ein Freund sucht eine zentrumsnahe Wohnung für 30.000 Dram, rund 60 Euro. Er findet sei Monaten nichts. Die Preise im Zentrum haben längst das ostdeutscher Großstädte erreicht. 200, 300 Dollar für eine Einraumwohnung sind normal. Eine Gruppe deutscher Freiwilliger wohnt zwanzig Minuten vom Zentrum mit der Marschrutka entfernt, sie zahlen zu dritt 500 Dollar für eine Vierraumwohnung. Entweder oder.
Wobei: Wir als Freiwillige haben gut reden. „Klar kann man in Yerevan gut leben“, sagt Martin, ein Freiwilliger aus Deutschland, „wenn man Geld hat.“ Die Freiwilligen aus Deutschland bekommen Unterkunft, Verpflegung, Taschengeld, gefördert vom BMZ (weltwärts) oder dem Auswärtigen Amt (kulturweit). Der gemeine Weltwärts’ler wird mit bis zu 580 Euro pro Monat vom BMZ bezuschusst. Seine Entsendeorgansiation gibt 25 Prozent dazu. Dafür sammelt der Weltwärts’ler monatlich 150 Euro Spenden in Deutschland. Jeden Monat bekommt er dann 100 Euro als Taschengeld, 230 Euro gehen an die Aufnahmeorganisation vor Ort. Nett.
Dabei wird oft kritisiert, dass viele der jungen Menschen, die ins Ausland gehen, kaum Qualifikationen haben, mit denen sie sich im Einsatzprojekt einbringen können. Die Kritik: Egotrip ins Elend. Auf einen Satz gebracht von der Berliner Politikprofessorin Claudia von Braunmühl: „An unqualifizierten Händen fehlt es dort nirgends!“ Etwas anderes sind viele Weltwärts’ler nicht. Bewerbungsbedingung: Abitur oder abgeschlossene Berufsausbildung. Abiturienten überwiegen. Die ijgd hat 2010 keinen einzigen Freiwilligen mit Berufsausbildung nach Osteuropa geschickt.
Trotzdem kann man sinnvolle Arbeit finden. „Wir versuchen, für unsere Freiwilligen Tätigkeiten zu finden, die ihren Fähigkeiten entsprechen. Klar müssen sie arbeiten, ein Freiwilligendienst ist Arbeit. Das sollte allen Beteiligten klar sein“, sagt meine Programmdirektorin. Mein Vorvorgänger war im Bereich Bau und Handwerk beschäftigt und lebte zeitweise in Urtsadzor, einem Dorf nahe des Naturschutzgebietes Khosrov. Meine Vorgängerin unterrichtete Deutsch und Englisch, assistierte bei einer TV-Produktion und tourte während der Sommerferien mit einer fahrenden Ökobiobliothek durch armenische Kleinstädte.
So mancher Freiwilliger ist also doch mehr als drei Stunden am Tag sinnvoll beschäftigt (vorgeschrieben ist eine 40-Stunden-Woche, was an vielen Einsatzstellen allerdings utopisch viel ist). Ich für meinen Teil konzeptioniere Webseiten (www.sunchild.org, www.tv.sunchild.org und edu.sunchild.org) und setze sie technisch um. Ein anderer Weltwärts’ler macht Englisch-Unterricht und bringt Kindern in einem Waisenhaus Gitarre bei. Andere (kulturweit) leiten eine Theaterwerkstatt, eine BA-Studentin unterrichtet Deutsch an der staatlichen Uni. Im Hinterkopf bleibt der Vorwurf der mangelnden Qualifikation für das, was wir tun. Ohne pädagogische Grundbildung Unterricht zu erteilen, mag seine Befürworter haben: Besser als kein Unterricht! Und seine Gegenargumente. Haben Sie schon mal versucht, die Präteritumsformen des Deutschen zu erklären? Oder die Aussprache von „ch“ in Bach oder gleich?
„Wir machen hier alle vieles zum ersten Mal“, tröstet mich meine Chefin manchmal. Meine Organisation: Zum ersten Mal eine Reality-Show mit Jugendlichen in der kaukasischen Natur. Ein Umweltfestival im Südkaukasus alle zwei Jahre seit 2007. Eine Schutzzone nahe eines Naturschutzreservates. In Vorbereitung: Ein College, eine Forschungsstätte, ein neuer Zoo. Wir alle lernen bei Versuch, diese Welt ein wenig mehr ins Gleichgewicht zu bringen. Wir, die armenische Organisation, und wir, die deutschen Freiwilligen.
Ob aus Weltwärts’lern allerdings später Entwicklungshelfer werden oder zumindest Menschen, die sich „insbesondere auch nach ihrer Auslandszeit tatkräftig entwicklungspolitisch engagieren“, wie es sich das BMZ wünscht, wird sich zeigen. Ebenso, ob sich dadurch für das Einsatzland etwas Bemerkenswertes ergeben kann. Der Satz: „wir machen etwas zum ersten Mal“, kann bedeuten, dass die Aktion Pionierarbeit ist. Oder von mangelnder Vorbereitung bedingt. Was am Ende eben doch einen Unterschied macht.