
Aus dem Französischen von Claudia Hamm; Matthes & Seitz, Berlin 2012; 414 S., 24,90 €
Wäre Eduard Limonow ein normaler Romanheld, müsste man den Autor rügen, immer wieder: »Diese Szene kaufe ich dir nicht ab, diese nicht.« Diese Fülle an irren Wendungen – Kleinkrimineller, Bohemien in der Provinz, in Moskau, in New York, Schoßhund, Verlassener, »Negerficker«, Erfolgsautor, Dandy in Frankreich, Oppositioneller in Russland, Putsch verpasst, weil gerade geduscht, Nationalbolschewist: inhaftiert, freigelassen, Frau verlassen – wäre für Fiktion schlichtweg zu fantastisch. Nur: Es ist keine Fiktion. Emmanuel Carrère erzählt die Lebensgeschichte von Eduard Limonow, der zwar ohne diesen Nachnamen geboren wurde (eine Hommage an Limone und limonka, russisch für Handgranate), ihn aber seit seiner Jugend trägt – und alles, wovon Carrère in seinem Buch erzählt, tatsächlich erlebte.
Carrère hat Limonow Anfang der 80er Jahre in Paris kennengelernt. Limonow war damals mit »Fuck Off, Amerika« zu Ruhm gelangt und führte in Paris das verwegene Leben eines bisexuellen Dandys. Seine Abenteuer, sein Achterbahnleben imponierte der jungen Literaturwelt. Aber dann zog der Held in den Balkankrieg, feuerte auf Sarajewo und fühlte sich dabei pudelwohl. »Und der Besessene mit der Baseballkappe, der mit dem Megafon in der Faust an der Spitze dieser Aufmärsche herumfuchtete, war genau jener witzige und verführerische Kerl, dessen Freunde zu sein wir wenige Jahre zuvor alle noch so stolz gewesen waren. Es war, als würde man die Entdeckung machen, ein ehemaliger Schulkamerad sei ein Hauptakteur des organisierten Verbrechens geworden oder habe sich bei einem terroristischen Attentat selbst in die Luft gesprengt. Man denkt an ihn zurück, wühlt in eigenen Erinnerungen und versucht, sich die Verkettung von Umständen und persönlichen Motiven zusammenzureimen, die sein Leben so weit von dem unseren weggeführt hatten.« Limonow fällt aus der Moral. Er ist der Verbrecher, Haudegen und Proll – aber wenn er dem Leser deshalb zu entgleiten droht, holt Carrère ihn mit Leichtigkeit zurück. Über eine Episode, als Limonow, noch als junger Kerl, mit einem Kumpel ein Flugzeug kapern will, schreibt Carrère: »[R]andvoll wie so oft versuchen sie, ein klappriges, altes Flugzeug zu klauen und es auf der Startbahn des Militärflughafens zum Abheben zu bringen. Die Sache geht nicht sehr weit, die Wächter, die sie festnehmen, betrachten die Affäre als Witz, und gerührt wie ich es war, als meine Söhne im Alter von sechs und drei Jahren von zu Hause weglaufen wollten und ihr Bündel schnürten, das aus einem um einen Regenschirm gebundenen Taschentuch bestand, bieten sie ihnen einen Schluck zu trinken an, um sie über ihren Misserfolg hinwegzutrösten.«
Die Gefahr des Entgleitens, weil Limonows Leben zu fremd, zu unvorstellbar und oft genug zu unmoralisch scheint, bleibt im ganzen Buch präsent, aber Carrère schafft es zumeist, sie abzuwenden. Er erklärt die politischen Wirren und Entwicklungen Russlands, er verknüpft seine eigene Familie, sein halbes Leben mit Russland und Limonow – und baut damit gerade jenes Geländer, das es braucht, um nicht auf dem beinahe-Unglaublichen auszurutschen. Wenn Carrère Episoden aus Limonows Lebens erzählt, liest es sich, als wäre man im Kino oder noch besser: selbst dabei, so sehr ist die Sprache »an der Sache ganz dicht dran« (was, nebenbei bemerkt, Verlagsmotto ist)¹. Die Erklärungen oder poetologische Überlegungen bleiben leicht. Sie gehen so weit sie müssen, um die Geschichte verständlich zu machen, fallen aber nie ins Schwadronieren. Der Leser erhält eine Schnellbesohlung in russischer Geschichte und streift, Händchen haltend mit dem Autor, immer wieder die Frage: Wie kann man über diesen Mann schreiben? Was hält man überhaupt von ihm – und ist es wichtig, dass der Autor ein Urteil über den Erzählten gefällt hat? »Es ist seltsam, sich auf eine Begegnung mit jemandem vorzubereiten, über den man vorhat zu schreiben, und dabei so wenig zu wissen, wie man es mit ihm halten soll.« Oft bleibt Carrère in der Schwebe, schreibt: »[W]er weiß.« Und beinahe ebenso oft muss er Stellung beziehen, weil es unmöglich wäre, ohne eine Position zu schreiben. Die größte Entscheidung bleibt, was erzählt und was verschwiegen wird. Einen wunderschönen Kniff spielt er zum Schluss aus: Als nämlich das Ende nicht das Ende wird. Limonow fragt, warum Carrère über sein Leben ein Buch schreibe. Carrère antwortet, weil es ein »romanhaftes, gefährliches Leben, ein Leben mit dem er gewagt hat, Geschichte mitzuschreiben« sei. Limonow erwidert: »Ein Scheißleben, ja«, und der Autor beginnt den nächsten Abschnitt: »Ich mag dieses Ende nicht und ich denke, auch er würde es nicht mögen. Ich glaube auch, jeder Mensch, der es wagt, ein Urteil über das Karma eines anderen zu fällen und selbst über das eigene, kann gewiss sein, dass er sich irrt.« Was folgt, sind Spekulationen über ein besseres Ende. Erleuchtung, ein Heiliger, die Machtübernahme? »[Z]u unwahrscheinlich.« Und dann findet Carrère – denn, wie Valérie Massadian sagen würde: Die Geschichte entsteht am Schneidetisch – ein wahrlich wunderbares Ende – die reine Dokumentation.
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