Honig, Beeren und Artistik

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Tawusch, mit seinem alten persischen Namen Schamschadin genannt, liegt im Nordosten Armeniens. Eine wunderschöne, baumbegrünte Region mit Landwirtschaft wie vor fünfzig Jahren, Imkerei und dem gemächlichen Fluss des Ländlichen. Wenn sich die Wolken um die Berggipfel winden und an ihren Schrägen ausfransen, erinnert Schamschadin an die Schweiz – mit dem Unterschied, dass viele Menschen hier sorgfältig ihren Exodus vorbereiten. Gab es in den ländlichen Gebieten Armeniens zu Sowjetzeiten hier und da Fabriken, Bergbau und Industrie, so ist heute nur jener Teil des Bergbaus übrig, der die Flüsse verdreckt und die Täler in einen bläulichen Schimmer taucht. In manchen Teilen der Nachbarregion Lori sind Böden und Wasser inzwischen derart konterminiert, dass die lokale Landwirtschaft mehr Giftschleuder als Nährstoffversorgung ist. Aber weil das Geld fehlt, Güter aus unverseuchten Gegenden zu importieren, gilt: Wer nichts isst, verhungert sofort, wer Gift isst, stirbt später.

Diese Sorgen haben die meisten Menschen in Schamschadin nicht, ihre Nahrungsmittel sind sonnensüß und sauber. Die Menschen leben von Subsistenzwirtschaft und tauschen – kochen, legen ein, produzieren Honig, backen. Trotzdem finden die Schamschadiner Produkte nur selten ihren Weg in andere Regionen Armeniens oder nach Jerewan. Zu lang sind die Wege, zu unorganisiert die Produktion. Jeder arbeitet für sich, eine beachtenswerte Produktionsmenge kommt so nicht zustande. Und zehn Gläser Marmelade nach Jerewan zu schicken, um sie dort auf dem Markt zu verkaufen, lohnt nicht, wenn andere statt dreieinhalb Stunden Fahrt 30 Minuten brauchen – und damit wesentlich geringere Transportkosten aufschlagen.

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Wenn Schamschadin nicht nach Jerewan kommt, kommt eben Jerewan nach Schamschadin. Das dachten sich die Organisatoren vom zweiten Schamschadiner Honey and Berry Festival. Sie stellten Werbefiguren auf, verteilten Flyer, verschickten Einladungen und warben auf Facebook. Wer wollte, konnte für 5000 AMD, rund 9,23 Euro, ein Busticket hin und zurück kaufen, der Eintritt selbst war frei. Sieben Busse füllten sich, dazu kamen unzählige Privatautos. Und weil sie das Festivalgelände kostenlos betreten konnten, kamen auch die Einheimischen. Während die Angereisten ihre Münder und Taschen mit Gebäck, Honig und Früchten füllten, bestaunten die Besucher aus der Region im Gras sitzend die kostenlosen Tanz- und Artistik-Vorführungen.


Man mag über Sinn und Unsinn streiten, sieben Stunden an einem Tag im Auto oder Bus durch die armenische Landschaft zu reisen, um über einen kleinen Festplatz zu schlendern, kunsthandwerklichen Kleinkram, Honig und Marmelade zu kaufen und von einem Restaurant oder Berggipfel aus die umliegenden Täler zu überblicken. Für die Aussteller jedenfalls ist die Bilanz erfreulich: Über 50 Kuchen, 100 Gläser Marmelade, 400 bis 500 Kilo Honig, einige Dutzend Schlüsselanhänger – ohne das Festival hätten sie all dies nicht verkauft.

Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien