Lesetipp: »Istanbul Notizen« von Mely Kiyak

»Istanbul Notizen« erschien im November 2013 als erstes eBook beim Digitalbuchverlag Shelff. Die Autorin Mely Kiyak war im Sommer 2013 zu Gast in der Künstlerakademie in Instanbul. Eigentlich wollte sie nur Ruhe zum Beobachten und Schreiben. Aber sie landete in einer Türkei, der genau in diesem Moment der Geduldsfaden riss. Also lauschte Kiyak, was die Leute sagten, fragte nach und schrieb mit. Ihre Beobachtungen, Begegnungen und Kommentare formen 120 lose beschriebene Seiten. Kiyaks Notate gleichen auf den ersten Blick mehr einem mündlichen Bericht als einer Journalisten- oder Literatensprache. Was allerdings vollkommen kontrastiert wird von der Schönheit ihrer Sprachbilder. Auf fast jeder Seite möchte man Sätze anstreichen, weil sie wahr sind, schön oder gleich beides. So erklären die Stammbesucher des Gezi Parks: »Mein Kind, wir wollen, dass es grün bleibt. Schau dich um. Wir sehen vor lauter Beton den Himmel nicht mehr.« Einandermal überrascht die scheinbare Beiläufigkeit in Kiyaks Beschreibung: »Wie ich meine Hand in die Seitentasche dieses Pullovers stecken wollte, war da schon eine drin. Das muss man sich einmal vorstellen. Man denkt sich nichts böses und trifft auf eine behaarte Männerhand die einen gemütlich nach Münzen oder anderen Wertgegenständen abtastet.« Egal ob Straßendiebe, Demonstranten, Sicherheitsmänner oder Reisebüroleiter, am Ende bilanziert Kiyak: »Man trifft auf Menschen, die so aufregend sind, so anders, so anders fein, und anders lustig, und alle Begegnungen lassen die Herzkranzgefäße tanzen« – die Leserherzkränze tanzen mit.

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Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien