readmill – die faszination des fremden lesers

ein altes zerfleddertes buch, das vor dir schon mehr als einen leser gesehen hat. zufällig hier und da ein eselsohr. bewusst bleistiftmarkierungen, fragezeichen, ausrufezeichen, vielleicht einige worte. das kann bei einem intelligenten, scharfsinnigen vorbesitzer des buches hoch spannend sein. oder grottenlangweilig, wenn es das leseexemplar eines genervten schülers ist, der alles tut, um das gefühl zu haben, die stunden gingen dadurch schneller vorbei.

gesetzt also den fall, wir haben es mit inspirierenden gedanken zu tun, dann ist es schon erstaunlich, dass der frühere leser sein durchgearbeitetes buch überhaupt hergegeben hat. was mir als folgeleser nützt, ist für ihn verloren. und genau da kommt das internet ins spiel. genauer gesagt die soziale anwendung: readmill. das konzept: wer sich die app von readmill auf ipad oder android holt oder seinen kindle entsprechend ausstattet, kann in die kommentar- und gedankenwelten anderer schauen. bücher werden bewertet, kommentiert – und der zauber der randbemerkung wird allgemein zugänglich, falls man ein entsprechendes gerät besitzt. wobei auf lange sicht der zugang mit sämtlichen lesegeräten ermöglicht werden soll.

das ebook soll dank readmill sozialer werden, im about heißt es:

»We want to integrate books with the web making them linkable, embeddable, shareable and hackable.«

der gedanke ist insofern spannend, dass sich mittels der app notizen sehr einfach ins digitale verlegen lassen – und damit der analogen notizsammlung (und ihrer verworrenheit, wo habe ich das noch gleich aufgeschrieben?) entkommen. die vage ahnung: »dazu habe ich letztens etwas gelesen«, wird klarer, ein kleinod rasch wiederauffindbar.

trotzdem ist es gruselig, dass da eine application sagt: der leser hat eine stunde sechszehn minuten mit diesem buch verbracht, ihm gefallen folgende textstellen und abschließend sagt er folgendes zu diesem text. zitate und kommentare, die man bei readmill verfasst, sind wiederum kommentierbar – das ganze ist schließlich sozial. das mag einen sinnvollen ansatz haben, weil man anderen lesern fragen zum text stellen kann:

– hey, ich verstehe kapitel neun nicht.
– ich finde kapitel neun ziemlich klar …
– what’s up with chapter 9?

und wenn die antworten etwas hergeben, ist das keine schlechte idee. ein potential von readmill liegt auch in kollektiver lektüre, in klassenzimmern und seminarräumen: da ließe sich eine diskussion ins digitale verschieben, weil man sagen könnte: sucht textstellen, in denen bestimmte dinge sehr deutlich sind – und man kann diesen prozess digital nachvollziehen, schon bevor die nächste sitzung beginnt.

im moment tummeln sich auf readmill noch vorwiegend geeks, sie lesen fachbücher zu webdesign, einige freie klassiker und ihre kommentare weisen selten auf literarisch funkelndes hin. denn vor allem wird readmill von seinen nutzern bestimmt. abhängig von den inhalten der user könnte die seite bald einen anderen wert haben – sogar fürs literaturtheoretische und literarische arbeiten. und nicht nur zur marketingfixierten auswertung des leseverhaltens, mit der readmill irgendwann geld verdienen will.

einen ausführlichen artikel zur entstehungsgeschichte, zu zielen und nächsten entwicklungsschritten gibt es auf ZEIT ONLINE.

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Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien