Zeit zu gehen

Ich habe mich verlaufen. Ich wohne lange genug in dieser Stadt, dass ich die Orientierung behalte. Ich weiß, in welcher Richtung mein Zuhause liegt, zumindest jenes, wo das Bett steht, in dem ich schlafe. Aber ich verliere mich in der Stadt. Ich gehe los mit Absicht, mich in ein Café zu setzen und ein wenig in dessen Welt zu tauchen – aber ich verirre mich, ich laufe weiter, als ich beabsichtigte, ich biege in die Straßen und Gassen, in denen ich einst wohnte oder zumindest jemanden kannte, der dort einmal gewohnt hatte. Ich denke an die Wohnungen jener Menschen, an unser Kaffeetrinken, an die kleinen Cafés, die wir auf unserem Weg entdeckten und wieder vergaßen. Und manchmal ende ich irgendwo. Wo ich zuvor nie war. Wo die Sessel scheinen, als seien sie ein Auslachen der Menschen, die ich noch eben auf der Straße sah, der Armen und sogar der Normalen. In diese Sessel sinke ich, als habe es alle Welt um mich nie gegeben. Als ich die Augen schließe und die Ohren öffne, schwanken die Klänge ins Englische, ein loungiges Dahinschwingen ohne jede Zielstrebigkeit. Der Raum leert sich, die Menschen verschwinden und die Tür zum Winter schwingt auf und zu. In meiner Tasse trocknen die Kaffeereste und erinnern mich daran, dass es Zeit ist zu gehen.

Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien