Fundstück des Tages: Über die Wohnlichkeit des Internets: »Die Krise der Blogger« — der Freitag

Alles begann, als ich vierzehn war. Man trieb sich auf myblog herum, führte öffentliche oder geschlossene Blogs, machte seinen Freunden das Passwort zum Geschenk. Manche wechselten die – damals wusste man noch nicht, dass man sie so nennt – Privatsphäreeinstellungen mehrmals wöchentlich. Morgens vor der Schule klickte ich mich durch die aktuellsten Einträge: Meist von Schülern, die vom Leidensdruck ihrer psychischen Erkrankungen oder ausgeprägten Pubertäten dazu gezwungen waren, ihre Verlorenheit in der Welt schon morgens um fünf zu bekunden. Man las die Blogs gegenseitig, kommentierte, machte sich Mut. Traf Geister, die auf der Grenze zum Tod balancierten und dabei die sonnigsten, wärmsten Gedanken an ihre Leser schickten. Mancher verschwand zeitweise, für immer oder tauchte plötzlich wieder auf. Wir glaubten uns unberechenbar wie streunende Katzen. Wieder andere schrieben über ihre fröhliche Leben und verschenkten Süßigkeiten per Post. Myblog, unsere Plattform, war dabei so unberechenbar wie wir: Plötzlich war ein Blog weg, wieder da, manchmal für Stunden gesperrt, für Tage stabil. Dieses ewige Plötzlich-Wegsein trieb den einen oder anderen ins eigene Netz: Domain gekauft, WordPress installiert und los. Trotzdem kam man als Leser zurück zu myblog. Und man wurde älter. Sortierte Blogs nach: Den fürs Fotoportfolio, den für die Seele, den fürs Haustier. Irgendwann hatte jeder eine Kollektion von ungepflegten Netzleichen, die man mit mehr oder weniger Wehmut löschte oder auf ewig weiterdümpeln ließ. Dann kamen die sozialen Netzwerke. StudiVZ, später Facebook, Google. Hängen geblieben sind wir auf Facebook. Aus meinem Freundeskreis führt niemand mehr einen Blog, den ich regelmäßig lese. Es führt überhaupt niemand mehr einen Blog. Wir werfen uns Fundstücke, Häppchen und Befindlichkeiten entgegen – und angesichts des deutschen Urheberrechts scheint es auch sicherer, seine Fundstücke dem beschränkten Freundeskreis auf Facebook zu servieren, als sie blogöffentlich zu machen. Vorschaubilder, ick hör dir trapsen. Es ist nicht mehr: »Bloggen ist so einfach wie E-mails zu schreiben«, womit myblog einst warb. Heute heißt es: Wir tun alles auf einer Plattform: Microblogging, Fotos teilen, E-mails schreiben. Denn ja, es ist bequemer, der Freitag hat recht:

Auf Facebook oder Google+ ist es auch nicht nötig, eine eigene Form oder einen eigenen Stil zu finden, denn alles ist vorgegeben. Die Einstiegs-Hürden und Anforderungen sind niedrig. Das kommt den Couch-Potatoes des Internets in ihrem Neobiedermeier entgegen. Ein Blog gleicht eher einer zugigen Haltestelle als einer Wohlfühlnische.

via Debatte ǀ Die Krise der Blogger — der Freitag.

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Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien