neulich im osten, i, 20. August 2011

viertel vor sieben an einem samstagabend in tangermünde. auf vier, fünf restaurants konzentriert sich das – nennen wir es liebevoll – leben in der stadt. zwischen diesen sammelpunkten der einwohnerschaft und der durchreisenden herrscht stille. zuweilen rollt ein auto durch die innenstadt oder ein motorrad knattert dem sonnenuntergang entgegen. die menschen beeilen sich, die stadt zu verlassen und sich in ihre trauten heime zurückzuziehen. dort lockt die sportschau, der grill im garten, das feierabendbier.

übrig bleibt menschenleere postkartenmalerische schönheit. ein wenig so, als hole tangermünde seine dunkelste zukunftsvision probehalber hervor, um sie verstohlen im halbdunkel aufblitzen zu lassen. schaut!, dieser abend wird tag sein in zehn, zwanzig jahren. schaut, was sein wird oder ihr verhindern könnt. wenn ihr bleibt, oh bitte bleibt doch! aber der ruf verhallt ungehört, die dunkelheit flutet die stadt und tangermünde wird wie ein kind, dem niemand zugehört hat, seine vision zurücknehmen und seine bewohner ins bett schicken.

ich gehe durch die lange straße, die zentralstraße des ortes. samstagabend, zehn vor sieben, ausgeprägte menschenleere, gestört von einem alten mann. er spricht mich in einem breiten fremden dialekt an: na, junge frau, da müssen sie sich aber beeilen, wenn sie noch was sehen wollen! passen sie auf, gleich werden die bürgersteige hochgeklappt.
aber … sind wir nicht schon zu spät?

von nun an behandeln wir uns wie touristen und sprechen über schöne fassaden, fachwerkhäuser und die altmärkische backsteingotik. bis er fragt, ob ich die elbpromenade gesehen hätte. sehr wohl, ich bin hier aufgewachsen. und er, er lebt in tangermünde seit 30 jahren mit einem dialekt, der seit ebenso langer zeit das erzgebirge nicht verlassen will.

Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien