Arnon Grünberg und Ilija Trojanow im Gespräch bei „Zürich liest“

Trojanow schätzt an Grünbergs Reportagen die Genauigkeit, Neugier, Offenheit und den empathischen Blick.

Trojanow: Ich glaube schon, dass die die Leute manchmal erstaunt sind, was man alles sehen kann. Verblüfft über den Blick des Anderen.
Eine Holländerin, deren Urlaub in Griechenland Grünberg begleitet hat, stellte dort in einem Supermarkt fest, dass Dosenmais in Griechenland teurer war als in Holland. Eine Begebenheit, die sie nicht über sich geschrieben wissen wollte, die Grünberg aber trotzdem veröffentlicht hat.
Trojanow: Aber sie zweifelt nicht daran, dass sie das gesagt hat.
Grünberg: Nein, aber daran, dass es geschrieben werden musste.

Grünberg: Nestbeschmutzer ist auch ein Kompliment.
Trojanow: Bei dir sieht man, welchen Erfahrungswert diese extreme Recherche [des eigenen Ausprobierens] bringt. An Schmerzgrenzen zu gehen und die Dinge selbst zu tun: Du warst Zimmerjunge und Masseur. Das stärkt Empathie.
Grünberg: Man überwindet die eigene Schwäche.
Trojanow: Was fasziniert dich am Ausnahmezustand?
Grünberg: Wir sind die Ausnahme, deshalb wollen so viele Menschen nach Europa. Ich versuche, das Andere zu verstehen. Nach einer gewissen Zeit ist mir klar geworden: Das Leben des Schriftstellers bestehend aus Lesungen und Kongressen wäre mir zu eng.
Trojanow: Durch die Flucht meiner Familie aus Bulgarien bin ich von klein auf mit Unruhe gesegnet. Alles änderte sich alle paar Jahre. Wenn man sich dieser Veränderung häufig aussetzt, mag man sie später nicht mehr missen.
Grünberg: Kannst du dir vorstellen, jetzt nochmal gänzlich umzuziehen?
Trojanow: Nein, im Moment nicht. Meine Bibliothek in Wien ist zu schön.

Grünberg: Kann man das Trainieren für die olympischen Spiele – du hast gesagt, du bereitest dich in allen Disziplinen auf den nächsten Wettbewerb vor – mit deinen Bulgarien-Reportagen vergleichen?
Trojanow: Bulgarien ist für mich eine offene Wunde. Solche Länder scheinen zu schreien: Beschreib mich! Während unsere Länder eher sagen, was willst du, die Supermarktregale sind gefüllt, lass mich in Ruhe.
Worüber schreibt man in Zeiten der Informationsüberflutung? Heute ist es eine große Qualität, das zu erzählen, was sonst kaum erzählt wird.
Grünberg: Wenn man wirklich gut hinschaut, ist fast alles interessant. Neugier ist wichtig. Die Distanz in meinem Schreiben liegt darin, dass ich wieder weggehe [also nicht im Moment des Dabeiseins, sondern in der Möglich- und Wirklichkeit, dieses Dabeisein zu beenden].
Trojanow: Ich gehe anstelle des Lesers an einen Ort und mache an seiner statt dort Erfahrungen. Wichtig ist dann zu zeigen, dass mich das berührt hat. Dann erst findet eine Transformation von mir auf den Leser statt.

Sie sprechen über „Wo Orpheus begraben liegt“, Trojanows kürzlich erschienenen Reportagenband mit Bildern von Christian Muhrbeck.

Trojanow: Das Buch ist ein Zwitter. Ich arbeite mit genauer Recherche und später mit literarischen Mitteln. Ich habe auch die Freiheit, etwas zu erfinden. Ich schreibe eine Geschichte, die auf den Geschichten und Persönlichkeiten vieler verschiedener Menschen fußt. Die Texte, die so entstehen, haben modellhaften Charakter.
Grünberg: Im Falle Bulgariens wirst du oft als ‚Nestbeschmutzer‘ bezeichnet.
T: ‚Nestbeschmutzer‘, sagen die Privilegierten in den Städten. Die Leute, die ich beschreibe, wollen, dass man ihre Geschichten erzählt. Sie sagen: ‚Ich nehme dich in die Pflicht. Ich erzähle dir etwas und du musst was daraus machen.‘
Es gibt oft große Hoffnungen, die Welt oder Europa werden sich ihrer annehmen, sobald die Geschichten erst einmal sichtbar gemacht werden. Das ist schwierig.
Grünberg: Was sagst du den Leuten?
Trojanow: Das hängt davon ab, wie gut wir uns kennen.

Jeder Schriftsteller hat seine eigene Karaffe.

Grünberg liest eine Reportage über amerikanische Männer auf Brautschau in der Ukraine aus seinem Buch  „Couchsurfen und andere Schlachten“. Als er am Pult steht, wirft das über ihm thronende Bühnenlicht Schatten seiner Locken auf den Sakkokragen.

Am Anfang von Grünbergs Text lacht das Publikum. Pointen hageln mit Einschlägen im Zehnsekundentakt. Aber je länger es liest, desto seltener wird das Lachen. Bald bleibt fast gänzlich aus. Stattdessen steckt es in den Hälsen der Menschen fest, beinahe erstickt es sie. Die Gesichtszüge der Besucher sind inzwischen ernst bis entglitten – auf einen Schlag ist klar, dass all das Absurde, von dem Grünberg erzählt, bittere Wirklichkeit ist.

Trojanow: Die Sätze, die du zitierst, kann man sich so nicht ausdenken.
Eine meiner schlimmsten Recherchen zwang mich drei Wochen auf ein Kreuzfahrtschiff. Was die Leute da sagen – angesichts schlafender Hafenarbeiter auf den Quais: Mensch, die haben es nicht weit zur Arbeit! – ich dachte, ich kann gar nicht so viel Fantasie haben, wie ich bräuchte, um mir so etwas auszudenken.

Grünberg: Wichtig für meine Arbeit ist, dass ich wirklich Teil dessen werde, was ich beschreibe. Es funktioniert nicht, zu denken: Ich bin hier, aber ich bin außen vor.
Ich habe das Glück, dass ich schnell denke: Ich bin einer von ihnen oder ich könnte es sein.

Trojanow: Entscheidend ist, dass du ehrlich bist, wenn du einen Menschen sehr nah, sehr genau portraitierst. Dass du offenlegst, was du machst. Eine andere Frage ist: Wann kommt man eigentlich an? Am Anfang steht immer eine uralte Inszenierung. Erst nach einigen Tagen nehmen dich die Menschen zwar noch als Fremdkörper wahr, aber sie richten ihr Handeln und Reden nicht mehr nach dir aus.

Trojanow: Das unangenehme Gefühl als Reporter, wenn jemand anruft und sagt: Hey, wir leben, mach dir keine Sorgen, es geht uns gut, – und du feststellst, dass es dich zwar freut, das zu hören, aber es dir kein unmittelbares Anliegen war, es zu erfahren. Das schmerzt, dabei fühle ich mich schlecht.

Grünberg: „In diesem Land können nur die Ungeborenen glücklich sein“ – ist das ein Satz, den du so gehört hast?
Trojanow: Das ist die Quintessenz unzähliger Sätze.
Ich glaube überhaupt nicht, dass du einen Hoffnungsschimmer erzählen musst, wo du als Autor keine siehst. Aber egal, wen du beschreibst, du musst ihm seine Würde lassen.

Sie sprechen über Trojanows aktuelles Romanprojekt.

Viele Autoren neigen dazu, das Böse zu überzeichnen. Es ist extrem schwer, aus der Sicht einer Figur mit mittelmäßiger Bosheit und Intelligenz zu erzählen. Die Figur muss sich und ihr Handeln rechtfertigen können, sie muss ihre eigene Lebenslüge glauben.
Problem 1: Die Figur muss glaubhaft sein.
Problem 2: Ich muss jeden Tag mit dieser Figur verbringen.
Grünberg: Gibt es etwas, das du an ihr magst?
Trojanow: Ihre Sprache imponiert mir. Manchmal würde ich gern so sprechen können. Sehr direkt, bodenständig und manchmal sehr bildhaft.
Grünberg: Du arbeitest schon lange an diesem Text. Hat die Figur dich verändert?
Trojanow: Sie nicht, aber ihr guter Gegenspieler. Jedes Buch, das wir schreiben, verändert uns. Aber nicht jede Figur.

Nachdem beide Autoren jeweils einen zweiten Text gelesen haben, flüstert Trojanow Grünberg etwas ins Ohr – und die letzten Worte, die die Besucher der Veranstaltung vernehmen, sind der Dank an Rainer Kersten, den Übersetzer von Grünbergs Buch.

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Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien