Baustaub, Bier und Charity

Ein armenisches Rockfestival unter freiem Himmel

Für ein Rockfestival braucht man:

Ein Stück Land.
Eine Bühne.
Besucher.
Bands.
Bier.
Zelte.
Schlafsäcke.
Und Toiletten.

Das Land ist ein Garten mit Bauruine.
Der Garten liegt im armenischen Dorf Getamej, eine halbe Stunde Autofahrt von Jerewan entfernt.
Die Bühne besteht aus einer Wiese und der Ladefläche eines Lkws.
Die Besucher kommen aus Jerewan mit Minibussen, Taxis und Privatautos: die lokale Rockgemeinde, dazu Diaspora-Armenier und Ausländer.
Die Bands sind 15 große und kleine der armenischen Rockszene. Oder Freunde von Freunden. Sie verzichten auf ihre Honorare und sammeln für die Renovierung der Dorfschule.
Das Bier besorgen eine Jerewaner Bar und ein Getamejer Kiosk.
Die Zelte und Schlafsäcke kann man vor Ort ausleihen.
Und die selbstgebauten Toiletten sind auch am zweiten Tag noch sauberer als jedes deutsche Dixiklo.

Über das Festivalgelände läuft ein kleiner zottig staubiger Hund. Bei fast jedem Besucher bleibt er stehen. Die Menschen beugen sich hinab und streicheln. Hier und da fällt ein Stück Brot zu Boden. Neben dem Eingang zum Festivalgelände liegen Stapel von Zelten und Schlafsäcken, die gegen Gebühr ausleiht, wer selbst nichts mitgebracht hat.

Weil das Festival mit armenischer Pünktlichkeit eine Stunde später beginnt als angekündigt, hat die Leadsängerin der ersten Band viel Zeit, die Besucher zu mustern. Sie entdeckt mich, kommt mir entgegen. Wir kennen uns aus den Jerewaner Rockbars. Sie stellt mir die übrige Band vor. Der Schlagzeuger ist eigentlich Zahntechniker, spricht gut Englisch und begleitet mich bei einem Rundgang über das Gelände. Gegenüber der Bühne steht eine Bauruine: ein Betonskelett mit Rostmetall. Davor liegen Rohe, Stangen und Holz. Der Schlagzeuger beharrt darauf, dass hier etwas entsteht. Und ich beharre, es verfällt. Der Abendwind wirbelt Sand und Baustau auf. Eine Jerewaner Bar stapelt derweil Bierflaschen ins Erdgeschoss. Zwanzig Schritte entfernt hat ein Dorfkiosk einen Stand improvisiert und verkauft Dosenbier, Limonade, Wasser, Kuchen, Blätterteigtaschen und Zigaretten. Dabei sind – im Gegensatz zu europäischen Festivals – die Preise keinen Deut höher als anderswo im Dorf. Überhaupt ist dieses Festival kein Luxustreff. Kostet in der Hauptstadt ein gewöhnliches Einbandkonzert bis zu 3.000 AMD (rund 5,35 Euro), bekommt man beim „River Fest“ vom 2. bis 3. August 2013 für 5.000 AMD (rund 8,92 Euro) 15 Bands an zwei Tagen, acht offizielle Konzertstunden, plus Jammsession am Lagerfeuer. Sogar die Anreise ist inbegriffen. Trotzdem erwirtschaftet das Festival einen Erlös von 300.000 AMD (ca. 535 Euro). Damit werden neue Fenster für die Getamejer Schule angeschafft und, so hoffen die Organisatoren, auch Wandfarbe, um die Klassenräume neu zu streichen.

Obwohl das „River Fest“ in dieser Hinsicht ein Event zugunsten des Dorfes ist, besuchen nur wenige Ortsansässige das Festival. Einerseits sind 5.000 AMD viel Geld, wenn man bedenkt, dass das landesweite Durchschnittseinkommen rund 147.000 AMD (ca. 262 Euro) beträgt und in den Dörfern vor allem einkommensschwache Familien leben. Andererseits fristet Rock in Armenien – auch in Jerewan – ein Nischendasein und die Festival-Meute mit ihrer Musik ist den meisten Armeniern suspekt. Einige Dorfbewohner haben sich auf dem Balkon eines Nachbarhauses eingefunden. In sicherer Entfernung stehen Männer, Frauen und Kinder und stellen erstaunt fest, wie friedlich das Festival doch bleibt.

Nachdem der erste Hobbykellerpop verklungen ist, werden die Bühenacts besser. Die Besucher sind entspannt, fröhlich, einige schon angetrunken. Als erste Szenen-Größe spielen Vordan Karmir. Zu ihrem Ethno-Metal rockt das Publikum, springt und headbangt. Eine nachfolgende Band covert internationale Klassiker, später singt die wunderbare Sima Cunningham. Ihr hat die Idee des „River Fests“ so imponiert, dass sie kurzerhand aus Amerika eingeflogen ist. Während man bei ihrer Darbietung mit geschlossenen Augen vor sich hin träumt, zieht der Abschlussact The Bambir das Publikum noch einmal auf die Tanzfläche. Der Ethno-Rock von The Bambir ist gut tanzbar, die Melodien sind bekannt, die meisten Besucher textsicher. Die Jerewaner Rocker, Diaspora-Armenier, Expats und Repats – sie werfen sich ein letztes Mal in die Refrains, grölen, headbangen, springen, tanzen, schleudern umher.

Als der letzte Song verklungen ist, lichtet sich das Gelände. Schnell werden die letzten Biere gekippt, die Dosen gefaltet. Dann strömt der Großteil des Publikums in seine Taxis und Privatautos – und jagt über die Getamejer Schlaglöcher zurück in die Hauptstadt.

Die Verbliebenen sammeln Holz für ein Feuer, formen einen Kreis und jammen gemeinsam durch die Nacht.

Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien