Weihnachtsgeschichten, ein Wunder

Der Mann vom Imbiss brachte weder Grünkohl noch Pizza, stattdessen hatte er einen Vogel in Hand. «Gefunden, bei euch vor dem Haus.» Der Vogel war schreckstarr und sein rechter Flügel stand unnatürlich ab. «Was machen wir mit ihm?» «Er muss sich ausruhen, oder? Vielleicht nehmen wir einfach die Kiste dahinten und ein Tuch.» Leila nahm ihren Schal vom Hals und raffte ihn in der Kiste zu einem Vogelnest, dann holte sie ein Glas Wasser. Sie hielt es dem Vogel an den Schnabel, das Wasser lief in seinen Hals und er schluckte. Als das Glas halb leer war, setzte Leila den Vogel ins Nest. Er bewegte sich noch immer nicht. Rafael, der bis dahin unbeteiligt hinter seinem Laptop gesessen hatte, nahm seine Kopfhörer ab. «1024 Punkte, ich führe … Was macht ihr da?» Er stand auf, ging auf den Vogel zu und strich über dessen abstehenden Flügel. «Alles in Ordnung. Das einzige Problem von dem Vieh ist, dass es nicht einfach losfliegen kann, sondern Fallhöhe braucht.»Sie nahmen den Vogel aus dem Nest und stiegen aufs Dach. Rafael vorweg, der Gast und Leila hinterher. «Gebt her.» Rafael nahm den Vogel, warf ihn mit einer Kugelstossbewegung vom Dach – und er flog davon.

Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien