Weihnachtsgeschichten, Schnee

Man muss Schnee sehen. Aber es war viel zu warm, bei 10°C Aussentemperatur konnte niemand ernsthaft daran glauben, dass an diesem Tag in Zürich noch Schnee fallen würde. Selbst wenn es in den grauen Wolken dort oben Eiskristalle gegeben hätte, sie wären geschmolzen, lange bevor sie das Fenster erreichten. Auf Rafaels Schreibtisch stand ein Kästchen voller Büroklammern und er griff nach den längsten. Er bog einige auf, sodass sie wie Drähte aussahen, und knüpfte ihre Enden aneinander. An diesen Drähten fädelte er kleinere Klammern auf und heftete daran zwei Ovale aus Klarsichtfolie. Die beiden Enden des Gestecks bog er rund, sodass sie um Bleistifte passten. Links ein Stift, dann das Klammernfoliengesteck und rechts ein Stift. Auf die Klarsichtfolie tupfte Rafael kleine Tippex-Punkte, die er mit einer Bleistiftmiene zu Sternen zog. «Siehst du nicht, wie es schneit», würde er zu Leila sagen, «setz die Brille auf.»

Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien