Film in Armenien. Verkrustete Strukturen, Geldmangel und ein Neuanfang

Eine Bestandsaufnahme für die Armenisch-Deutsche Korrespondenz (ADK)

Sobald wir über Film in Armenien sprechen, entfaltet sich die Nostalgie der 1970er Jahre, der Blütezeit der armenischen Filmkultur. Jerewan zählte mehr als 20 Kinos, jeder Stadtteil hatte sein eigenes Kino mit eigenem Programmschwerpunkt. Für einen guten Film standen die Menschen stundenlang Schlange. Es gab Kunstfilme und ein Publikum dafür. Es gab eine Vereinigung der Filmschaffenden mit eigenem Kinosaal, wo exklusive Premieren stattfanden und fast geheime Vorführungen, immer frequentiert von den lokalen Filmschaffenden und Cineasten.

1976 zog Hayfilm, das 1923 gegründete staatliche armenische Filmstudio, in einen riesigen Gebäudekomplex am Stadtrand Jerewans. „Zwei Hauptgebäude, ein neu gebautes Filmstudio, ein hochmodernes Tonstudio, eine Abteilung für Animation, ein Fuhrpark, mehrere Lagerhallen für Requisiten und Kostüme, ein Filmlabor“ so beschreibt Filmkritiker und Dozent Suren Hasmikyan das damalige Zentrum des armenischen Films. Es gab 1.200 Mitarbeiter, darunter Regisseure, Kameraleute, Tontechniker, Filmlaboraten und einfache Arbeiter. „Jedes Jahr erschienen sechs bis sieben abendfüllende Spielfilme bei Hayfilm und wenn man auch Dokumentarfilme, Kurzfilme und Animationen verschiedenster Stile einrechnet, waren es mehrere Duzend Filme jährlich.“

„Das größte Problem damals war die Zensur“, erzählt Filmhistorikerin Siranush Galstsyan im Interview. „Sowohl in der Filmproduktion als auch, wenn ausländische Filme in den Kinos gezeigt wurden. Oft fehlten ganze Szenen. Anderseits haben wir Filmnarren nach der Unabhängigkeit zuweilen Filme aus Sowjetzeiten gesehen und uns gefragt: Wie kann es sein, dass dieser Film so gezeigt werden durfte? Nicht alle Menschen, die in der Zensurbehörde gearbeitet haben, waren dumm oder ungebildet, wie man es sich als Klischee vorstellt. Es gab kluge, belesene Leute, die auf der Seite der Filmemacher standen. Zuerst gab es oft heftige Auseinandersetzungen – aber zum Schluss entstand ein Film.“

Mit der Unabhängigkeit Armeniens fiel die Zensur weg – und zugleich die verlässliche staatliche Finanzierung für die Branche. Die armenische Filmproduktion, die in den 1980er Jahren ihre höchste Produktivität erreicht hatte, schwand in den 1990er Jahren dahin. „Die Idee, einen Film drehen zu wollen, schien lächerlich angesichts dieser bitteren Jahre, in denen die Menschen eher damit beschäftigt waren, zu überleben und irgendwie finanziell über die Runden zu kommen“, so Journalistin und Dokumentarfilmemacherin Naira Paytyan. Gleichzeitig hielten nur wenige Kinos, darunter Kino Moskau, Kino Nairi und Kino Rossia, den Betrieb aufrecht.

Zwar verbesserte sich die soziale und ökonomische Situation in Armenien zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dennoch fehlten dem armenischen Staat die Mittel, um das alte Hayfilm Studio zu modernisieren. Neben Mosfilm, dem Staatlichen Moskauer Filmstudio, war Hayfilm einst eines der fortschrittlichen Filmstudios in der gesamten Sowjetunion gewesen. Doch selbst der russische Staat brachte die Mittel für die Modernisierung von Mosfilm nicht selbst auf, sondern entschied sich für den Weg der Privatisierung.

2005 zog Armenien nach. Das Hayfilm Studio ging zum Kaufpreis von 350 Millionen Dram (heute circa 615.000 Euro) in den Besitz von Armenia Studio CJSC unter Leitung von Bagrat Sargsyan über, der sich als Vertreter der Cafesjian Stiftung präsentiert hatte. 24.200 Quadratmeter Studio- und Lagerraum und ein Gesamtgebiet von 32,6 Hektar sollten für 50 Jahre in den Händen von Armenia Studio CJSC liegen. Die Bedingung: Durch die Privatisierung des Studios sollte der armenische Film zu neuer Blüte gelangen. Im Laufe von 10 Jahren sollten 70 Millionen Dollar in die Modernisierung der Anlage investiert werden: Renovierungen, Anschaffung modernen Equipments, die Digitalisierung des Filmarchivs von Hayfilm. Außerdem sollte sich das neue Studio in der Filmförderung betätigen und jährlich mindestens vier Spielfilme, drei Animationsfilme und fünf Kurzfilme produzieren.

Es geschah – wenig. Eine Seifenoper wurde gedreht. Mitarbeiter wurden entlassen. Lagerhallen wurden zu anderen, einträglicheren Zwecken umfunktioniert: eine Wäscherei, ein Glühbirnenlagerhaus, Gewächshäuser. Als Ersatz für Filmförderung vermietete das Studio seine alte Filmtechnik. Die Zeit fraß ihre Spuren in die Substanz der Hauptgebäude. 2015 war die Zehnjahresfrist verstrichen, in der die Investitionen getätigt werden sollten. Der Staat forderte das Studio zurück. Doch die technische Ausrüstung ist verschwunden, das Filmlabor zerfallen und Reste von früheren Kulissen liegen auf dem Außengelände in Ruinen. Das Problem, dass es zu wenig finanzielle Mittel für die Modernisierung des Studios gibt, ist dringlicher denn je.

„Die größte Schwierigkeit für den armenischen Film ist die fehlende Finanzierung – in allen Bereichen“, so Siranush Galstyan, die am Jerewaner staatlichen Institut für Theater und Film armenischen und internationalen Film lehrt. „Es beginnt bei der Bildung.“ So kostet beispielsweise ein Regiestudium 500.000 Dram jährlich – fast ein Viertel des durchschnittlichen Jahreseinkommens in Armenien. Und selbst wer sich das Studium leisten könne oder ein Stipendium für herausragende Studienleistungen erhalte, stehe nach dem Studium vor der existentiellen Frage, die notwendigen Mittel für einen Debütfilm aufzutreiben.

„Ein Maler braucht Farben und eine Leinwand“, so Galstyan. „Film ist einfach eine Sparte, die viel mehr Material benötigt – und dafür braucht man Geld. Schauen wir uns meine Absolventen an. Da gibt es einige, denen es gelungen ist, private Gelder aufzutreiben oder staatliche für ihr Kurzfilmdebüt zu erhalten. Aber viele verlassen das Land, gehen nach Deutschland oder in die USA. Für Armenien ist es fürchterlich, diese jungen, talentierten Menschen zu verlieren. Aber wie kann jemand hierbleiben, wenn er in Armenien keine Chance hat, seine Ideen umzusetzen?“

Ich besuche Anahit Arpé, Drehbuch-Beraterin beim Nationalen Filmzentrum Armeniens, das 2006 nach der Privatisierung von Hayfilm als staatliche, nichtkommerzielle Institution zur Förderung des armenischen Films gegründet wurde. Die Aufgaben des Zentrums umfassen u. a. die Bereitstellung von Kofinanzierungen, die Teilnahme an internationalen Filmfestivals und Filmbörsen. 2016 lag das Förderbudget bei ca. 514.000 Euro für Spielfilme und circa 105.000 Euro für Animationsfilme. Außerdem wurden je vier Nachwuchsfilmemacher und vier Filmstudenten gefördert.

Anahit Arpés Büro ist ein spartanisch eingerichteten Raum mit kleinem Elektroheizer. An der Wand hängt ein mit Klebestreifen geflicktes Portrait von Hamo Beknazaryan, dessen Namenszusatz Hayfilm seit 1966 trug. Sie blättert ein dickes Album auf, in dem Presseberichte und Rezensionen aus aller Welt alte Hayfilm-Produktionen beschreiben. Zwei junge Männer klopfen an ihre Tür und fragen, wie sie sich für Filmförderung für ihre Debütfilme bewerben könnten. Eine kurze Antwort später verschwinden die beiden in ein anderes Zimmer, um sich Formulare abzuholen. „Die Deadline ist schon verstrichen, aber das Auswahlverfahren hat noch nicht begonnen, vielleicht können wir sie noch unterbringen. Es sollte mehr als nur einen Bewerbungszyklus im Jahr geben.“

An der Fördervergabe des Nationalen Filmzentrums scheiden sich die Geister – wann Bewerbungen eingereicht werden müssen, ist dabei das geringste Problem. Vor einigen Jahren verlangte Harutyun Khachatryan, damals Direktor des „Golden Apricot“ Internationalen Filmfestivals (GAIFF) in Jerewan, es müsse rotierende Auswahlkommissionen geben, damit nicht ständig dieselben Leute gefördert würden. Dozentin und Filmkritikerin Siranush Galstyan betont einen zweiten Aspekt: „Die Leute in den Auswahlkommissionen müssen vernünftig für ihre Arbeit bezahlt werden. Einerseits sind sie dann unabhängiger gegenüber Bestechungsversuchen. Anderseits können sie es sich dann leisten, sich wirklich eingehend mit dem eingereichten Material zu beschäftigen. Nicht stichprobenartig, weil die Zeit nicht reicht, sondern vertieft und ausführlich prüfen – davon würde das Fördersystem stark profitieren.“ Andere Stimmen werfen der Kommission vor, in einer Ästhetik des Sowjetischen verhaftet zu bleiben, statt zu fragen, welche Filme heute international konkurrenzfähig sein könnten.

Ich treffe Victoria Aleksanyan, eine aus Jerewan stammende Regisseurin und Produzentin, die heute in New York lebt. Ein Studium am Jerewaner Filminstitut war für sie einst zu teuer und Stipendien hatte es zu dieser Zeit nicht gegeben. So studierte sie Journalismus an der Staatlichen Russisch-Armenischen Universität in Jerewan, ehe sie für ein zweites Masterstudium mit Stipendium der Luys Foundation an die Columbia Universität nach New York wechselte. Um einen Kurzfilm zu drehen, ist sie für einige Monate nach Armenien zurückgekehrt.

„Einen guten Film zu drehen, kostet in Armenien überraschenderweise nicht weniger als in Deutschland oder Amerika. Was immer gepriesen wird – der mit den minimalen Mitteln gemachte Film, am besten noch gedreht in der eigenen Wohnung – kann sich im internationalen Wettbewerb nicht behaupten.“ Die Hälfte der Finanzierung für ihren Kurzfilm sollte vom Nationalen Filmzentrum kommen, die andere Hälfte von einer privaten Produktionsfirma aus Russland. Doch dann brach die Förderung vom Nationalen Filmzentrum weg, die Schauspieler fanden keinen rechten Zugang zum Drehbuch, und Victoria Aleksanyan erkannte: Für den Film, den sie machen wollte, war Armenien nicht bereit. Die Geschichte einer jungen Frau, die auf der Suche nach Liebe einem Ausländer verfällt und mit ihm schläft, während die Grenzen zwischen Geschäft und Zuneigung verschwimmen. Im Ausland weckte diese Idee Interesse: Man wolle wissen, wie sich diese Geschichte eingebettet in der armenischen Gesellschaft erzählen lasse. In Armenien selbst: Ein umstrittenes Thema. Außerdem entsprach Victoria Aleksanyans Herangehensweise, geschult im internationalen zeitgenössischen Film, nicht den Vorstellungen der Fördervergabekommission beim Nationalen Filmzentrum und stieß auch bei einigen Dozenten des Jerewaner Filminstituts auf Widerspruch. „Das ist natürlich extrem verunsichernd. Egal, wie sehr man hinter seinem Projekt steht, wenn man so viel geballte Ablehnung erfährt, beginnt man zu zweifeln.“ In Victoria Aleksanyans Fall gibt es zumindest ein Gegengewicht, ein internationales Netzwerk, das ihre Filmidee unterstützt. Wer sich jedoch ausschließlich im nationalen armenischen Umfeld bewegt – für den sind als Nachwuchsfilmemacher die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten deutlich limitierter.

Dass es in Armenien mehr Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen internationalen Film geben muss, um eingefahrene Denkmuster aufzubrechen, darin sind sich alle Akteure einig, mit denen ich für diesen Text gesprochen habe.

Harutyun Khachatryan hat sich die Umsetzung dieser Idee auf die Fahnen geschrieben. Nachdem er im Sommer 2017 seine Tätigkeit als Direktor des „Golden Apricot“ Internationalen Filmfestivals niedergelegt hatte, wurde er im Oktober zum neuen Direktor der armenischen Vereinigung der Filmschaffenden gewählt. Seither herrscht Aufbruchstimmung in der Vereinigung.

„In zehn Jahren wollen wir eine ernstzunehmende internationale Einrichtung geschaffen haben, ein Kino, eine Ausbildungsstätte, ein Museum – kurzum ein Zentrum für internationale Filmkunst in Armenien“, so Harutyun Khachatryan.

„Wir werden Berufsverbände u. a. für Regisseure, Kameraleute, Drehbuchautoren, Produzenten gründen. Wir wollen faire Produktionsbedingungen durchsetzen und Rechtsbeistand für Filmschaffende stellen. Und wir wollen Bildung fördern. In unserem Zentrum wird es regelmäßige Filmvorführungen, Themenabende und Ausstellungen geben, außerdem werden wir ein Filmmuseum und eine Videothek einrichten. Zugleich wollen wir Jugendlichen und Nachwuchsfilmemachern eine Plattform geben.“

Harutyun Khachatryan führt mich durch das Gebäude der Vereinigung. In einem kleinen Raum finden schon jetzt fast täglich kostenlose Filmvorführungen und Diskussionen statt. Die Vorbereitungen für die Gründung der Berufsverbände laufen auf Hochtouren. Eines der wichtigsten Projekte ist die Wiederbelebung des größten Kinosaals in Armenien – ein 20 Jahre lang kaum genutzter Raum mit 550 Sitzplätzen. Die Wände holzvertäfelt, die Akustik ist fantastisch, die Atmosphäre betörend. Doch die technische Ausstattung ist längst nicht mehr zeitgemäß.

Fast ist es in dieser Reportage zum Mantra geworden: „Die größte Herausforderung ist es, die finanziellen Mittel für dieses Projekt aufzutreiben.“ Doch Harutyun Khachatryan ist optimistisch: „Es gibt jede Menge gute Projekte und Konzepte. Jetzt müssen wir die entscheidenden Leute von diesen Ideen überzeugen. Aber der Bedarf ist da und alle Beteiligten sind äußerst enthusiastisch.“

Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien