Als er ging.

Ich lebte mit einem Sinn zusammen. Er war schwierig, zugegeben, und manchmal verschwand er wortlos für einige Tage oder Wochen. Wenn er zurückkam, flickte ich die Löcher in seinen Kleidern, verordnete Bettruhe und kochte Hühnersuppe. Mein Sinn kam schnell wieder zu Kräften, und wir lebten eine Weile lang ziemlich glücklich zusammen. Seine Ausflüge waren ein Tabuthema, ich wagte nicht, ihn danach zu fragen und er vermied es tunlichst, von ihnen zu erzählen. Aber jeder sollte seine Freiheit behalten. Eines Abends wurde alles anders. Da saß er mir gegenüber und versuchte, meinen Blick aufzufangen. Das tat er für gewöhnlich nicht. Meistens aßen wir schweigend, er schien zufrieden mit dem, was ich ihm auftischte, und ich war zufrieden, wenn ich sah, dass er es aß. „Was ist?“ „Ich muss gehen“, er stand auf und nahm seinen Mantel. Ich sah noch die Flicken vom letzten Mal. „Ich lasse dir hier, was ich nicht brauche, in Ordnung?“ Ich nahm meinen Mut zusammen: „Wann kommst du wieder?“ „Nie“, sagte er im Gehen, „Aber … es ist nicht deine Schuld, hörst du?“ Dann zog er die Tür hinter sich zu. Ganz vorsichtig. An diesem Abend habe ich meinen Sinn verloren.

Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien