Weihnachtsgeschichten, Ein guter Mensch werden

«Gut ist, wer gut handelt», stand auf der Weihnachtskarte eines Geschäftspartners. Die Rückseite war mit Vorschlägen zum Gutmenschsein gepflastert: Trinkwasser spenden, einen Brunnen, Augenlicht. Jemand Fremden zu Weihnachten … das Übliche. Trotz ihrer 301 Gäste fand Leila, dass es im Büro zu still war. Im Briefkasten hatte am Morgen ein Faltblatt eines Schnellimbiss gesteckt, der für Heiligabend mit Grünkohlpizza warb. Ziemlich armselig, dachte Leila, griff nach ihrem Privattelefon und rief an. Statt zu bestellen, fragte sie: «Habt ihr zu tun?» Der Mann am Telefon zögerte, dann verneinte er. «Mögt ihr mit uns feiern? Zürich, Blobbstrasse 4, Kreis 5. Ihr müsst nur bei uns anrufen und sagen, dass ihr ein Problem mit der Weihnachtsapp habt. Habt ihr ein Smartphone? Dann ladet ihr euch die Weihnachtsapp herunter, genau: ‹Weihnachtsapp›, und dann sagt, dass ihr ein Problem mit … dem Gästezähler habt, und wir schlagen vor, dass ihr vorbeikommt. Das ist unser Job.» Der Mann zögerte wieder. «Wir würden uns freuen!» Leila legte auf, steckte ihr Handy in eine Socke, die Socke in ihre Handtasche und wartete. Gleich würde ein Kunde anrufen. Der erste heute.

Von Wiebke Zollmann

Schreibt, übersetzt, fotografiert. Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts. Mentorin bei Online-Literaturmentorat. Texterin & Fotografin für The Naghash Ensemble aus Armenien